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Auf Deine seelische Gesundheit, Thailand!
von Thomas Schmid, Bangkok
Foto: Alexas
Neulich stolperte ich über einen Nachrichtenartikel der Nationalen Nachrichtenagentur von Thailand (NNT), der mich – wie leider allzu oft – wieder einmal ungläubig mit dem Kopf schütteln ließ. Die ziemlich reißerische Überschrift des Artikels lautete: „Mit Alkohol in Zusammenhang stehende seelische Störungen steigen in Thailand an.“ Nun wissen wir zwar, dass im Land des Lächelns quer durch die sozialen Schichten sehr gerne und kräftig gebechert wird, aber was das mit seelischen Störungen zu tun haben soll, das musste ich also wirklich herausfinden. Ergo las ich weiter.
Der Artikel zitierte das Ergebnis einer neuen Umfrage des Amts für geistige Gesundheit (Ja, das gibt es wirklich; es untersteht dem Gesundheitsministerium!), für die zwischen Juli und September 2013 (Wie bitte, und das wird erst jetzt, Mitte 2015, veröffentlicht???) landesweit nahezu 5.000 Bürger im Alter von über 18 Jahren befragt wurden. Eines der Resultate dieser Studie wäre angeblich gewesen, so der Artikel, dass 10,1 Millionen Alkoholtrinker mit seelischen Störungen kämpfen, darunter Depressionen, Angstzustände und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS). Das wäre ein Anteil von 19,6 Prozent aller Alkoholkonsumenten.
Irgendetwas konnte mit diesen beiden Zahlen nicht stimmen, erkannte ich sofort und kramte meinen Taschenrechner aus der Schreibtischschublade. Also: Wenn 10,1 Millionen Alkoholtrinker psychische Probleme haben und gleichzeitig angeblich einen Anteil von 19,6 Prozent aller Schluckspechte in Thailand ausmachen, dann bedeutet das nach Adam Riese, dass insgesamt rund 51,3 Millionen Bürger mehr oder weniger regelmäßig zur Flasche greifen. Dabei hat Thailand nur ungefähr 67 Millionen Einwohner! Da die Studie lediglich mit über 18-Jährigen durchgeführt wurde, könnte man annehmen, dass es sich bei der Differenz zwischen 67 Millionen und 51,3 Millionen (also rund 15,7 Millionen) um Minderjährige handeln muss. Das kommt zwar in etwa hin, aber die angeblich 51,7 Millionen Alkoholkonsumenten würden dadurch ja quasi die gesamte erwachsene Landesbevölkerung umfassen; Männlein wie Weiblein, Senioren wie jüngere Erwachsene gleichermaßen.
Obwohl sicherlich ein überproportional großer Anteil der einheimischen Erwachsenen dem landesweiten Klub der Schnapsdrosseln angehören mag, so können die von NNT veröffentlichten Zahlen unmöglich stimmen. Irgendein NNT-Journalist hat da beim Schreiben seines Artikels etwas gewaltig verbockt, aber es ist Langansässigen wie mir selbst natürlich allzu wohlbekannt, dass viele Thailänder mit dem Zahlenjonglieren (und dem Verständnis bzw. der Analyse von Statistiken) auf absolutem Kriegsfuß stehen. Der Skandal ist natürlich, dass auch keinem Redakteur beim Überprüfen des Artikels diese offensichtliche Unstimmigkeit ins Auge gestochen zu sein scheint, bevor man ihn ohne mit der Wimper zu zucken veröffentlichte. Es wäre jedoch auch sehr interessant, sich die originale Studie näher zu betrachten, denn es besteht auch durchaus die Möglichkeit, dass schon bei der Auswertung der Umfrageergebnisse gewaltiger Mist gebaut wurde. Wie ich bereits andeutete: Thailänder und Zahlen …
Aber sei’s drum. Wir wollen spaßeshalber ganz einfach einmal die 10,1 Millionen Alkoholtrinker geflissentlich ignorieren und stattdessen annehmen, dass tatsächlich 19,6 Prozent aller Alkoholkonsumenten angeblich seelische Probleme haben. Das wäre auch gar nicht so abwegig, denn wer ein seelisches Problem hat, der gießt sich auch gerne einen hinter die Binde. Das wäre also nichts Ungewöhnliches. Wir haben jedoch die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn der NNT-Artikel ging noch weiter.
NNT behauptete darin, das Amt für geistige Gesundheit hätte in seiner Studie angeblich außerdem das Folgende festgestellt … und nun halten Sie sich bitte fest, geneigter Leser, denn ich übersetze den entsprechenden Abschnitt aus dem NNT-Artikel wortwörtlich: „Alkoholgenuss kann zur Entwicklung seelischer Störungen beitragen, sowie bereits vorher existierende Probleme der seelischen Gesundheit verschlimmern.“ Man fragt sich bei einem solchen Statement tatsächlich: Wer verzapft denn nur einen solchen Schwachsinn? Jawohl, viele trinken, weil sie seelische Probleme haben. Aber: Entwickelt jemand seelische Probleme, weil er trinkt? Ruft Alkoholgenuss seelische Probleme hervor? Man darf es tatsächlich bezweifeln.
Ich weiß nicht, wie sie zu Alkohol stehen oder auf ihn reagieren, geneigter Leser, aber bei mir ist das zumindest so: Ich trinke gelegentlich, um mich nach einem langen Arbeitstag zu entspannen und mich von etwaigen Problemen zu distanzieren. Ich trinke Alkohol auch einfach mal nur so aus reinem Spaß. Zuerst stimuliert er mich und ich werde sehr lustig und gesprächig. Mit weiterem Konsum werde ich später dann müde und möchte irgendwann nach Hause. Sicherlich habe ich jedoch noch niemals seelische Probleme entwickelt, weil ich getrunken habe. Sind thailändische Schnapsdrosseln also anders als wir „Farang“?
Freilich gibt es auch solche Trinker, die durch Alkohol aggressiv gemacht werden und gerne aus heiterem Himmel (und oft grundlos) einen Streit vom Zaun brechen. Das beobachten wir unter Einheimischen genauso wie unter Ausländern. Aber als „seelische Störung“ kann man eine solche Reaktion wohl nur schwerlich bezeichnen. Es soll auch Menschen geben, die bei bestehender Depression ihren Zustand durch Alkoholgenuss noch verstärken und sich dann sogar mit Selbstmordgedanken tragen. Von diesem Typ ist mir zwar noch niemand begegnet, aber das will nichts heißen. In dieser Hinsicht mag zumindest der zweite Teil des obigen Statements zutreffen. Dennoch bleibe ich dabei: Eine seelische Störung wird nicht durch Alkoholgenuss hervorgerufen. Ein Alkoholiker schüttet sich mit Schnaps voll, damit er sich besser fühlt (u.a. weil er dadurch seine Sucht befriedigt). Man kann sich kaum vorstellen, dass er sich Tag ein, Tag aus einen hinter die Binde kippt, wenn er sich dadurch jedes Mal seelisch schlechter fühlte. In anderen Worten: Er braucht Alkohol, um sich besser zu fühlen.
Nun wollen wir selbstverständlich nicht behaupten, alle Alkoholtrinker in Thailand wären auch alkoholsüchtig. Beileibe nicht. Es gibt hier genauso Gelegenheitstrinker wie anderswo auch. Es gibt sogar mehr Abstinenzler, als man angesichts dieses lachhaften NNT-Artikels vermuten würde. Ich bin mir jedoch fast sicher, dass viele der einheimischen Zeitungen den Artikel ohne jegliche Infragestellung der präsentierten Zahlen veröffentlicht haben. Und vielleicht war dies auch der Hauptgrund für diese an den Haaren herbeigezogene „Nachricht“, denn ehrlich gesagt ist NNT aufgrund seiner oft festgestellten Befangenheit bei der Berichterstattung nicht eine der bevorzugten Quellen der internationalen Presse. Möglicherweise zielte der Artikel in erster Linie auf die einheimische Bevölkerung ab; als Warnung und zur Abschreckung sozusagen, dass Alkoholgenuss die Gefahr der Entwicklung schwerwiegender seelischer Probleme zur Folge haben „könnte“. Denn an einer Tatsache beißt die Maus keinen Faden ab: Egal ob es jetzt 51,3 Millionen Schnapsdrosseln im Lande geben mag oder weniger, Thailand hat ein ernsthaftes Alkoholproblem.
Ein erklecklicher Anteil besonders unter der männlichen Bevölkerung spricht dem Alkohol in jeglicher Form zu. Keine Gelegenheit (nicht einmal eine religiöse Festlichkeit im buddhistischen Tempel!) wird ausgelassen, um eine Flasche zu köpfen und leider wird allzu oft buchstäblich gesoffen, bis man unter den Tisch sinkt. Auf gut Deutsch: Man weiß nicht, wann man den Kragen voll hat. Nun verstehen Sie mich bitte nicht falsch, geneigter Leser. Ich bin kein heuchlerischer Moralapostel, der gegen das predigt, was er eigentlich viel zu oft selbst tut. Allerdings weiß ich aber, wann ich es mir leisten kann und wann nicht. Meine Arbeit wird – und darf nicht! – unter einem Zechabend leiden. Wenn ich tatsächlich einmal lange „auf die Piste“ gehe, dann tue ich das nur, wenn ich am nächsten Tag keine Verpflichtungen auf dem Programm stehen habe. Dieses Pflichtbewusstsein scheint bei Thailändern nicht immer im Vordergrund zu stehen. Anders ist es nicht zu erklären, weshalb ich vor dem kleinen Laden in meiner Nachbarschaft viel zu häufig bereits am Vormittag die gleichen Gesichter beim Bechern antreffe, obwohl ich mit Bestimmtheit von ihnen weiß, dass sie eigentlich in Firmen angestellt sind, bei denen sie wohl auch zum Arbeitsantritt erwartet werden. So viele freie Tage, an denen man sich auch unter der Woche schon frühmorgens unbesorgt zum Umtrunk zusammensetzen kann, gibt es selbst im Westen nicht.
Wie schlimm es um Thailand in Sachen Alkoholmissbrauch wirklich bestellt ist, erfährt man am anschaulichsten aus einer Statistik der Weltgesundheitsbehörde (WHO), von der ich zudem annehme, dass sie mehr Hand und Fuß hat als ein gewisser NNT-Artikel. Unter 191 erfassten Ländern belegt Thailand bezüglich des jährlichen Pro-Kopf-Konsums an reinem Alkohol mit 7,1 Litern lediglich den 76. Platz, liegt damit also im vorderen Mittelfeld. Das mag zunächst gar nicht so schlimm wirken – bis man sich die Statistik etwas näher betrachtet. Zwar wird in Ländern wie Tschechien, Slowakei und Ungarn über das Jahr hinweg insgesamt deutlich mehr reiner Alkohol konsumiert, aber dort wird der Großteil (d.h. jeweils die Hälfte und mehr) in der Form von Bier genossen. In Thailand fallen jedoch stolze 72,6 Prozent des jährlichen Pro-Kopf-Konsums an Alkohol auf „Spirituosen“ (d.h. hochprozentiger Schnaps). Und was das in Thailand bedeutet, das wissen Sie bestimmt ebenfalls, geneigter Leser, nämlich der billigste Fusel in der Form von „Lao Khao“ und ähnlichen Gesöffen. Allzu zuversichtlich, dass sich die Situation trotz warnender NNT-Artikel verbessern wird, scheint WHO nicht zu sein. Immerhin prognostiziert die Statistik für das Jahr 2015 einen Anstieg des Pro-Kopf-Konsums von 7,1 Litern auf 8,3 Liter. Falls dies zutrifft, freut man sich schon hämisch zu erfahren, ob sich das auch in einem noch weiteren Anstieg der angeblich durch Alkohol hervorgerufenen seelischen Störungen auswirkt – oder vielmehr in noch mehr Alkoholkatern und Arbeitsplatzabwesenheiten. Hoch die Tassen, Thailand!
Erschienen in der TIP-Ausgabe 2015-7