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Der Vulkan, der in Stille ausbrach

Vulkan
Foto: Aron Visuals

Die kulturelle Kluft zwischen Einheimischen und Ausländern kann bisweilen auch für langansässige Expats wie Andrew Biggs, den Sonntagskolumnisten der englischsprachigen Tageszeitung Bangkok Post, schier unüberwindlich erscheinen – besonders wenn „kreng dschai“ ins Spiel kommt; übersetzt von Thomas Schmid.

Letzten Freitag hat Meuk gekündigt. Er füllte das offizielle Kündigungsformular aus, legte einem seiner Kollegen noch eine Dankesnote auf den Schreibtisch und verschwand sodann … vom Antlitz der Erde.

Ich war zu der Zeit geschäftlich in der Provinz unterwegs, aber meine Personalchefin unterrichtete mich von Meuks Kündigung. Ich dachte, ich würde mich erst nach meiner Rückkehr am Montag damit befassen. Meuk kann nämlich ein wenig unstet sein und wer weiß: Vielleicht hat er bis dahin seinen Entschluss geändert, sitzt wieder in seiner kleinen Bürozelle und arbeitet seelenruhig vor sich hin. So dachte ich.

Allerdings passierte das nicht. Meuk trat nicht zur Arbeit an. Einige Tage später versuchte ich, ihn telefonisch zu erreichen. In der Leitung hörte ich jedoch lediglich „Biep … Biep … Biep“. Er hatte meine Telefonnummer blockiert! Gleichzeitig hatte er mich auch als seinen Facebook-Freund gelöscht und dort ebenfalls blockiert. Meuk hatte sich vollkommen zurückgezogen, hatte die Flucht ergriffen. Aber vor was … oder vielmehr vor wem? Das ist eine Frage, die mich bereits seit einer ganzen Woche beschäftigt hat.

„Sie brauchen es nicht persönlich zu nehmen“, meinte meine Personalchefin. „Er fühlt nur gerade kreng dschai. Das kennen Sie doch, oder etwa nicht? Kreng dschai.“ Da hatten wir ihn wieder einmal, diesen infernalen Ausdruck. kreng dschai. Aber lassen Sie mich lieber erst noch meine Geschichte über Meuk zu Ende bringen, bevor ich Ihnen diesen Begriff näher erläutere.

In ein paar wenigen Monaten wären es zehn Jahre geworden seit Meuk in mein Leben stolperte. Er profitierte von einer kleinen Wohltätigkeitsorganisation, die ich mit einem engen Freund zusammen gegründet hatte. Sie war ins Leben gerufen worden, um Waisenkindern der Tsunami-Katastrophe im Jahr 2004 genügend finanzielle Beihilfe zur Verfügung zu stellen, damit sie ihre Ausbildung weiterführen konnten. Eines dieser Waisenkinder war Meuk.

Wie die anderen Waisen, die von uns Stipendien erhielten, so besuchte auch Meuk damals die Mathayom 1, also die 7. Klasse. Heute sind sie allesamt 23 Jahre alt. Zwei unserer Schüler gaben ihre Ausbildung vorzeitig auf: Ein Mädchen wurde schwanger und ein Junge kam mit dem Gesetz in Konflikt. Alle anderen machten aber ihren Mittelschulabschluss. Einige von ihnen gingen danach sogar zur Universität oder Berufsschule.

Unseren größten Erfolg konnten wir mit Moo verbuchen. Er ist jetzt im fünften Jahr Medizinstudent an der Prince of Songkhla-Universität. Ich habe ihm einmal im Spaß erzählt, ich erwarte mir keine Gegenleistung für seine Ausbildung – außer dass er mich vielleicht mit Xanax und Vidocin versorgen könnte, wenn ich einmal ein alter Tattergreis bin.

Die ersten sechs Jahre lang kannte ich Meuk lediglich von Fotos her, die er mir immer zusammen mit Fotokopien seiner Schulzeugnisse zuschickte. Ich traf ihn zum ersten Mal Angesicht zu Angesicht, als er nach Bangkok kam, um an einer Uni weiter zu studieren. Er war ein ruhiger Jüngling, mager und dunkelhäutig und mit einer schlimmen Gesichtsakne, die sich zweifelsohne deshalb herausgebildet hatte, weil er immer alle seine Probleme in sich hineinfraß. Für mich war es stets ein hartes Unterfangen, ihn zu einer Unterhaltung zu ermuntern. Vielleicht war er aber auch nur übernervös, dass er sich mit einem riesengroßen, einschüchternd wirkenden Farang unterhalten sollte.

Während er studierte verdiente er sich durch Wochenendarbeit in meiner Firma [Biggs betreibt eine Fremdsprachenschule in Bangkok; Anmerkung der Redaktion] ein Zubrot. Er war nie ein ausgesprochen geselliger Mitarbeiter, aber er war vertrauenswürdig und effizient. Vor zwei Jahren stellte ich ihn schließlich fest an. Es gab nie irgendwelche Skandale oder Schwierigkeiten mit Meuk, aber nach wie vor war er verschlossen und fraß seine Probleme in sich hinein, bis sie so schwer auf ihm lasteten, dass man sie von seiner besorgt zerfurchten Stirn ablesen konnte.

Er erledigte seine Arbeit aber auch immer umständlicher als nötig. Einmal sollte er beispielsweise eine große Menge Bücher und Lehrmaterialien in einen Kombi verladen. Daraufhin schickte er mir eine dreiseitige Textmitteilung mit einer langen und breiten Dissertation darüber, weshalb er unbedingt einen Mithelfer benötigte. „Warum hast Du mich nicht angerufen und ganz einfach darum gebeten, Dir jemanden zu schicken, der Dir zur Hand gehen kann?“, fragte ich ihn, als wir uns das nächste Mal über den Weg liefen. „Kreng dschai“, antwortete Meuk schlicht. Da war er wieder, dieser unsägliche Begriff!

In der Zeit ging ich dazu über, Meuk nur noch als den „Vulkan“ zu bezeichnen; natürlich aber auf nette Weise. Diesen Spitznamen erhielt er aufgrund seiner Tendenz, beim geringsten Problem sofort in Tränen auszubrechen. Ich habe oft versucht, ihn ein wenig abzuhärten und ihn zu ermuntern, über seine Probleme zu sprechen, bevor sie ihn überwältigten. Es gelang mir nicht.

Wie eingangs erwähnt, ist Meuk nun also spurlos untergetaucht. Doch keiner meiner einheimischen Mitarbeiter schient besonders überrascht darüber zu sein. „Er zeigt Ihnen gegenüber nur kreng dschai“, erklärte mir meine Personalchefin. „Er möchte Ihre Gefühle nicht verletzen, nach allem, was Sie für ihn getan haben. Seien Sie deshalb nicht allzu traurig.“

Ich soll nicht allzu traurig sein? Wie sollte ich nicht traurig sein angesichts der Tatsache, dass für mich trotz meiner vielen Jahre in diesem Land die kulturelle Kluft immer noch so unüberbrückbar ist, dass ich mich selber wundere, ob ich in meinen 25 Jahren überhaupt etwas verstanden habe?

Thailänder sind stets sehr flugs dabei zu erklären, dass kreng dschai angeblich eine einzigartige einheimische Wesensart darstellt, die wir Ausländer ganz einfach nicht besitzen. Ich begründe diese Einsicht auch auf die infernale, ständig wiederkehrende Frage, die Thailänder uns bei jeder Gelegenheit stellen: „Können westliche Ausländer kreng dschai verspüren oder nicht?“ Es kommt mir tatsächlich so vor, als wäre kreng dschai genauso eine exklusive Domäne dieses Königreichs wie „som tam“, Jasminreis oder Sündenböcke aus Myanmar.

Der Begriff lässt sich wohl am ehesten mit „Rücksicht auf die Gefühle anderer Mitmenschen“ umschreiben. Man ist beim kreng dschai darum bemüht, sicherzustellen, durch das eigene Verhalten eine andere Person nicht traurig, bestürzt oder verärgert zu machen oder ihr einen Gesichtsverlust zuzufügen. In der Praxis äußert sich dieses kreng dschai jedoch oft nur dadurch, dass man eine gewisse Sache nicht tut, um so die Gefühle der anderen Person nicht zu kompromittieren.

Mir gefällt zwar der Umstand, dass Thailänder ihr kreng dschai so hoch bewerten. Auf der anderen Seite schäume ich aber vor Wut angesichts der Andeutung der Einheimischen, wir Ausländer besäßen kein kreng dschai. Jeder, der um meine Gefühle besorgt ist, ist bei mir herzlich willkommen. Und in der Tat: Wenn man als westlicher Ausländer in diesem Land eine hohe Firmenposition innehat, wird man eine Menge der alltäglich in der Firma vorfallenden Probleme wegen dieses kreng dschai überhaupt nicht gewahr. Sie werden an einen einfach nicht herangetragen, man wird mit ihnen nicht belästigt. Man sollte sich wegen einer solchen Ausklammerung allerdings nicht übergangen fühlen, sondern vielmehr glücklich schätzen, dass man sich mit den betreffenden Problemen nicht herumschlagen muss.

Dennoch hat kreng dschai wie so mancher Zeitgenosse auch eine dunklere, undurchsichtigere Seite. Es ist wie eine „Sie kommen aus dem Gefängnis frei“-Karte beim Monopoly-Spiel, die bei jenen unliebsamen Situationen eingesetzt wird, denen man sich eigentlich stellen müsste, sie jedoch lieber vermeidet. Und genau das tat ja auch mein junger Schützling am vergangenen Freitag.

Ich erkläre ihnen das anschaulicher: Also, Meuk musste annehmen, dass seine urplötzliche Kündigung mich wohl verärgern würde. Meuk wollte mich aber nicht verärgern. Der beste Weg, mich nicht zu verärgern war für ihn, klammheimlich und ohne ein Wort darüber zu verlieren zu kündigen und sodann sowohl meine Telefonnummer zu blockieren als mich auch als seinen Facebook-Freund auszuschließen. Auf diese Weise, so dachte er sich, erspare er mir die Agonie, mir seine formelle Kündigung anhören zu müssen. Das wiederum ersparte mir seiner Ansicht nach den Ärger über seine Kündigung.

Konnten Sie diesem Gedankengang folgen? Vielleicht sollten Sie sich zum besseren Verständnis den obigen Absatz nochmals genau durchlesen. Das erübrigt sich selbstverständlich, wenn Sie ein Einheimischer sind, denn als Thailänder wird ihnen der Gedankengang vollkommen klar sein und Sie werden jetzt in feierlicher Zustimmung den Kopf nicken. Als westlicher Ausländer sind Sie auf der anderen Seite nun wahrscheinlich frustriert über die im vorherigen Absatz beschriebene verzerrte und mangelhafte Logik.

Meuk hat mich also aus seinem Leben ausgeschlossen, um mir die Enttäuschung über seine Kündigung zu ersparen! Er wollte damit nur auf meine Gefühle Rücksicht nehmen. Er denkt nicht weiter, nämlich dass der Akt, mich zu blockieren, aus seinem Leben zu verbannen und auf Nimmerwiedersehen unterzutauchen mich möglicherweise weitaus mehr verärgert hat, als wenn er schlicht und ergreifend ganz einfach seine Kündigung bei mir eingereicht hätte. Er hat mich nicht konfrontiert. Und genau deshalb ist und bleibt kreng dschai für mich bis heute eine der nervigsten thailändischen Verhaltensweisen. Vielleicht ergeht es Ihnen ebenso.

An einem gewissen Freitagnachmittag verlor ich einen jungen Mann, dessen Erwachsenwerden ich von einem spindeldürren, klein gewachsenen Dreizehnjährigen bis zu einem molligeren – allerdings nahe am [Tränen-]Wasser angesiedelten – 23-jährigen Jüngling unmittelbar mitverfolgt habe. Nein, ich habe ihn nicht nur verloren, sondern ich wurde von ihm in der Tat sang- und klanglos abgesägt wie ein missbrauchender Stiefvater.

Wurde ich Zeuge einer tief verankerten thailändischen Charaktereigenschaft, die wir Ausländer nur schwer begreifen können? Ich glaube mittlerweile, dass eine solche Andeutung, wie sie uns ja oft von den Einheimischen an den Latz geknallt wird, völlig an den Haaren herbeigezogen ist. Jawohl, es existiert sicherlich eine tiefe kulturelle Kluft, aber verschwand Meuk tatsächlich nur wegen seines kreng dschai vom Antlitz der Erde und dadurch aus meinem Leben? Mein Verdacht ist, dass dies die falsche Erklärung wäre. Die Thailänder mögen ihr kreng dschai ja mit Blumen und Orchideen schmücken und als großartige, einzigartige Charaktereigenschaft in den Himmel loben. Man sollte kreng dschai aber besser bei seinem wirklichen Namen nennen: Feigheit.

Erschienen in der TIP-Ausgabe 2015-1

 

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